18.02.2022

Massenentlassung: Folgen eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG

Eine Massenentlassung führt regelmäßig zu gerichtlichen Streitigkeiten. Nun hat das Bundesarbeitsgericht den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens im Zusammenhang mit der Frage angerufen, welche Sanktion ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nach sich zieht.

ESRS: Delegierter Rechtsakt veröffentlicht

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Der Beklagte ist Insolvenzverwalter in dem am 01.10.2019 über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eröffneten Insolvenzverfahren. Der Kläger war seit 1981 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt.

Massenentlassung von 195 Arbeitnehmern

Am 17.01.2020 wurde die vollständige Einstellung des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin zum 30.04.2020 beschlossen. In diesem Zusammenhang war die Entlassung aller zuletzt noch 195 beschäftigten Arbeitnehmer beabsichtigt. Aufgrund des Stilllegungsbeschlusses fanden mit dem bei der Insolvenzschuldnerin bestehenden Betriebsrat Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs sowie eines Sozialplans statt. In Verbindung mit dem Interessenausgleichsverfahren wurde auch das im Falle einer Massenentlassung erforderliche Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt.

Entgegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (MERL) in nationales Recht umsetzt, wurde jedoch der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden und an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG übermittelt. Mit Schreiben vom 23.01.2020 wurde eine Massenentlassungsanzeige erstattet, deren Eingang die Agentur für Arbeit am 27.01.2020 bestätigte. Am 28.01.2020 erhielt der Kläger die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses zum 30.04.2020. Noch für den 28./29.01.2020 beraumte die Agentur für Arbeit Beratungsgespräche für 153 Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin an.

Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL?

Mit seiner Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung vom 28.01.2020 geltend gemacht. Die unterlassene Übermittlung der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG an die Agentur für Arbeit verstoße gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL. Diese enthielten nicht nur eine sanktionslose Nebenpflicht, sondern stellten eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung dar. Die Übermittlungspflicht solle sicherstellen, dass die Agentur für Arbeit so früh wie möglich Kenntnis von den bevorstehenden Entlassungen erhalte, um ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können. Sie habe von daher arbeitnehmerschützenden Charakter. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.

Welchen Zweck hat die Übermittlungspflicht?

Das Bundesarbeitsgericht hat mit Beschluss vom 27.01.2022 (6 AZR 155/21 (A) den EuGH nach Art. 267 AEUV ersucht, die Frage zu beantworten, welchem Zweck die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL dient. Hiervon hängt nach Auffassung des Senats ab, ob § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der unionsrechtskonform in gleicher Weise wie Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL auszulegen ist, ebenso wie andere den Arbeitnehmerschutz – zumindest auch – bezweckende Vorschriften im Massenentlassungsverfahren als Verbotsgesetz gemäß § 134 BGB anzusehen ist. In diesem Fall wäre die Kündigung unwirksam.


BAG vom 27.01.2022 / Viola C. Didier, RES JURA Redaktionsbüro

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